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Für dich selbst ist keine Zeit

Für dich selbst ist keine Zeit

Für meine Freundin R.

 

Der Tag beginnt. Der Wecker klingelt. Du bist noch müde. Du bist noch kraftlos. Mühsam quälst du aus deinem Bett. Den Tag beginnen, irgendwie.

Dein Kopf will nicht denken. Müde, du bist so müde. Jeder Schritt strengt an. Warum sind deine Beine nur so unheimlich schwer? Du kannst kaum gerade stehen.

Dann stehst du da und schaust in den Spiegel. Du erkennst dich nicht. Du bist so unheimlich müde. Müde schon am frühen Morgen. Die Zahnbürste kreist über deine Zähne. Mühsam, es fehlt dir der Sinn. Es soll ja niemand sagen, du lässt dich gehen. Später sitzt du in der Küche. Starrst auf deinen Kaffee, Hunger hast du nicht. Du isst irgendwas. Warum? Das kannst du nicht erklären. Du bist so müde, so unsagbar müde. 

Dann schaust du dich um. Ja, in der Wohnung herrscht Wirrwarr. Du räumst ein wenig hier, ein wenig da. Soll ja niemand sagen, es wäre unordentlich. Du quälst dich. Du putzt das nötigste. Niemand sieht wie die Schweißperlen über deine Nase laufen, auf den Boden tropfen. Du quälst dich, Sauberkeit muss sein. Soll ja niemand sagen, die Wohnung verkommt. Irgendwann dann sitzt du völlig entkräftet auf einem Stuhl. Du bist so müde, so kraftlos und doch musst du es schaffen, irgendwie. 

Du musstest gehen. Der Vater nahm die Kinder mit. Du bist allein mit all deinen Sorgen. Deinen Sorgen um die Kinder, deinen Sorgen um die Mutter. Für dich selbst ist keine Zeit. Dir fehlt die Kraft. Zu vieles stürzt auf dich ein. Die Trennung von den Kindern, die Entfremdung von ihnen, finanzielle Engpässe, die Pflege deiner Mutter. Nein, du kannst dich nicht um dich sorgen. Für dich ist keine Zeit. Die Pflege der Mutter nimmt deine letzten Reserven.

Du bist so müde. Du lässt den Tag verrinnen. Irgendwie. Nur irgendwie bis zum Abend kommen. Nur irgendwie den Tag hinter dir lassen.

 

Du kannst nichts tun. Auch wenn du weißt, dein Kind braucht Hilfe. Auch wenn du weißt, deinem Kind geht es nicht gut. Du hast keine Wahl. Du hast keine Chance. Man lässt dich nicht zu ihm. Man gibt dir keine Möglichkeit. Was wird sein, wenn dein Kind aufgibt? Wie sollst du damit leben? Schon jetzt treiben dich die Schuldgefühle. Die Sorgen um dein Kind machen dich verrückt. Sie nehmen dir die Lust am Leben. Sie nehmen dir die Kraft. Die Kraft, die du für dich selber brauchst. Doch für dich ist keine Zeit.

 

Du lebst in Angst. In Angst vor dem nächsten Tag. Was er wohl bringen wird? Doch jeden Morgen wirst du wach und der Horror nimmt seinen Lauf. Du bist so müde. So kraftlos. Den Postkasten leerst du schon lange nicht mehr. Du kannst es nicht. Telefonieren geht auch nicht mehr. Deine Welt wird kleiner und kleiner. Doch für dich ist keine Zeit. Die Probleme türmen sich auf, immer weiter. Doch du bist so unheimlich müde. Müde vom Leben.

 

Wie weiter? Du weißt es nicht. Warum weiter? Du weißt es nicht. Wer würde dich vermissen, wenn du jetzt gehst? Du weißt es nicht.

 

Dein Leben ist ein Kampf. Ein Kampf um jede Stunde des Tages. Es gibt nichts was dich freut, was dir gut tut. All überall sind deine Sorgen und Nöte. Doch für dich ist keine Zeit. Niemand ist für dich da. Niemand kümmert deine Angst. Du stehst da. Einfach da und der Tag vergeht. Du bist keinen Schritt weiter. All deine Sorgen sind noch immer da. Du fühlst dich hilflos, allein gelassen. Nur der Tag ist vergangen. Mehr nicht. 

Es ist Advent. Doch dafür hast du keine Sinne. All über all steht deine Angst. Jeder Tag ist gut, wenn es abends dunkel wird. 

 

Ich kann dir auch nicht helfen. Nur diese Zeilen für dich schreiben, weil ich an vielen deiner Baustellen ebenfalls baue. Ich kann deine Angst, deine Sorgen und Nöte verstehen, empfinden. 

Ich wünsche dir die Kraft, für dich selbst zu sorgen, vor allem Hilfe zu holen, Hilfe anzunehmen. Damit auch du irgendwann wieder das Licht am Ende des Tunnels siehst. Nimm dir Zeit für dich. Du bist es wert.

 

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