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Brief einer verlassenen Mutter an ihre tote Tochter

Verlassene Mutter von einer toten Tochter

Liebe Jenny,

heute habe ich einen alten Blogbeitrag gefunden, in dem ich mir viele Fragen stellte. Fragen, zu Themen bei denen wir aneinander geraten sind. Das heißt, du hattest eine andere Meinung, einen anderen Standpunkt, eine andere Sichtweise, als ich und hast mich damit unter Druck gesetzt, mit Vorwürfen konfrontiert oder einfach nicht mehr mit mir gesprochen. Deine Ablehnung war dann, mit allen Sinnen, zu bemerken. Ich konnte sie oft nur schwer aushalten. Sie machte mich hilflos. Ich hatte doch nur eine andere Sichtweise oder Handlungsweise. Mehr nicht. Es gab doch überhaupt keinen Grund, mir deshalb mit Abweisung zu kontern. Menschen müssen nicht immer einer Meinung sein. Auch dann nicht, wenn sie sich lieben. Jeder geht seinen eigenen Weg und das ist gut so. Das ist Freiheit, zu leben wie es uns gut tut. Ich konnte nicht dein Leben führen und du wolltest mein Leben nicht führen. Das ist völlig normal und keine Auseinandersetzung wert. Du warst leider stets anderer Meinung.

Ich habe deine Beziehungen immer akzeptiert und die Beziehung zu deinem Freund St. fand ich wundervoll. Damals glaubte ich, dass du nun glücklich werden würdest. Ich habe dir dein Leben, von ganzem Herzen gegönnt. Es war so wunderbar, dein helles Lachen zu hören und zu sehen. Es war so wunderbar euch, im Miteinander, zu beobachten. Endlich warst du so herrlich jung und fröhlich. Ja, mein Kind liebte und das war toll.

 

Du hattest deine Vorstellungen und Grenzen, deine Lebensweise. Auch wenn ich nicht immer verstand, warum oder weshalb du solche Vorstellungen hattest, versuchte ich sie doch zu verstehen. Nein, ich musste sie nicht teilen oder dir Gleiches tun. Du hattest jedoch genau diesen Anspruch. Ich konnte ihn nicht erfüllen, denn es war ja mein Leben. Du warst erwachsen und gingst deiner Wege. Auch ich wollte endlich glücklich sein und meiner Wege gehen, ohne mich zu verbiegen.

 

Du hattest deinen Standpunkt und wenn ich einen anderen hatte, hast du mich kritisiert. Du hast mir beständig ein schlechtes Gewissen gemacht. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst war. Heute habe ich gelernt, dass ich auch eine gute Mutter war und sein kann, wenn ich mich nicht verbiege. Bin ich nur eine gute Mutter, wenn ich alle deine Wünsche und Forderungen, deine Sichtweisen und Standpunkte, bejahe? Ich glaube nicht. Ich bin kein Mensch und war keine Mutter, die man hassen und ignorieren musste. Ich habe nicht in dein Leben eingegriffen. Es waren deine Entscheidungen und das war gut so! Ich wollte einfach nur, auch mein Leben führen und wünschte mir nur, dass du es mir ebenso gönnst. Es war mir unmöglich, dir gerecht zu werden, ohne mich selbst aufzugeben. Das macht mich bis heute traurig und hoffnungslos. 

 

Warst du vielleicht eifersüchtig

Das meine neue Beziehung für dich ein Problem war begriff ich sehr schnell. Es war nicht meine Beziehung zu Michael. Das Problem war, aus meiner Sicht, dass er auch Kinder hatte. Wir hatten, gemeinsam, nun 5 Kinder und sogar schon 4 Enkelkinder. Heute denke ich, du warst eifersüchtig auf die Kinder von Michael. Anders kann ich mir dein Verhalten nicht erklären. Du hattest überhaupt keinen Grund dafür. Denn du warst ja meine Tochter, die ich liebte und Michaels Kinder hatte ich gern. Liebe kann man teilen, ohne dass sie schwächer wird.

 

Wenn ich dir von meinem "neuen" Leben erzählte, warst du regelmäßig empört und aufgebracht. Es war schlimm, du konntest meine Freude nicht teilen. "Aber zu uns kommst du nicht..., ich habe dir auch mal einen Kuchen gebacken..., irgendwas war immer, was dich in Rage versetzte.

Du wolltest solche Dinge nicht hören. Ich war so oft fassungslos. Was war nur los mit dir? Musste ich wirklich ein schlechtes Gewissen haben. Ich habe es oft nächtelang hin und her gedreht und keine wirkliche Lösung gefunden. Ich liebte dich und doch konnte ich nicht sein, wie du es erwartest hast. Ich konnte und wollte es nicht.

 

Ich war so froh, endlich einen wirklich guten Menschen gefunden zu haben, der mich liebte. Nach 25 Jahren hatte ich das verdient! Natürlich hat es in den ersten Jahren Probleme gegeben. Wir hatten ja beide unseren Lebensweg, Erfahrungen und auch Nöte. Eltern verzeihen. Eltern vergeben. Weil sie ihre Kinder lieben. Michael wäre niemals glücklich geworden, ohne seine jüngste Tochter. Heute haben wir gerade zu ihr, wieder ein wunderbares vertrautes Verhältnis und dafür bin ich sehr dankbar. Michael und ich haben miteinander und für einander gelernt, gekämpft, gelitten, um zusammen glücklich alt zu werden. Ich wünschte du hättest ihn besser kennenlernen können. Dann hättest du bemerkt, dass er ein guter Mann war, der seine eigenen Sichtweisen und Standpunkte hat. Diese müssen nicht immer mit den meinen übereinstimmen. Das ist kein Grund uns zu streiten. Jeder von uns darf sein wie er ist.

 

"Du bist nicht die Oma! Du bist erst Oma, wenn ich ein Kind habe!" Diese harten und unerbittlichen Worte höre und spüre ich heute noch. Wieder stellte ich mir die Frage, was denn nur mit dir los war. Was war daran so schlimm, dass ich die Kinder Enkelkinder nannte und sie mich Oma nannten. Es ist doch so schön, auch wenn ich nicht die leibliche Oma bin, Oma genannt zu werden. Die (Enkel)Kinder können doch nichts dafür. Ich habe mich auch geehrt gefühlt, denn Kinder sind ehrlich. Sie hatten mich lieb und darauf war ich stolz. Natürlich kann man Kinder und Enkelkinder auch lieben, wenn sie nicht leiblich sind. Das hat doch gar nichts mit dir zu tun, denn die Liebe zu dir war davon unberührt. Mutter und Tochter (Sohn) verbindet eine ganz besondere Liebe. Du bist mein Kind und ich habe dich geboren! Ich bin gern Oma, auch wenn ich nun nie mehr, die Oma von deinem Kind sein werde. Das ist grausam, denn ich weiß du wolltest Mutter werden und ich hätte mich riesig gefreut.

 

Deine Vorstellungen von meiner Verlobung und Hochzeit

In einem Dänemarkurlaub haben Michael und ich uns verlobt. Damals hast du dich mit uns gefreut. Sofort war dir klar, wann wir heiraten müssten. Ich erinnere mich noch gut daran.

"Oh toll, dann heiratet ihr ja nächstes Jahr". Als ich verneinte, warst du sofort sauer. "Natürlich, man heiratet doch ein Jahr nach der Verlobung!!"

Wir haben uns verlobt, weil wir uns lieben, nicht weil wir heiraten wollen. Wann und ob wir heiraten wussten wir noch nicht. Vielleicht gar nicht. Das konntest du nicht verstehen. Was folgte war, wie immer, Funkstille.

 

Die Hochzeit gehörte zu Michaels Lebensplan. So heirateten wir, 3 Jahre nach unserer Verlobung, 2010. Es war ein wunderschöner heimlicher Hochzeitstag. Wir denken heute noch gern daran zurück. 

Alle freuten sich mit und für uns. Nur du nicht. Von dir hörten wir nichts. "Vielleicht ist ja unsere Karte nicht bei Jenny angekommen? Vielleicht weiß sie noch nichts?". Nach unserem Hochzeitsurlaub dann, rief ich dich an. Ohne jedes schlechte Gewissen. Wenn du schon die Karte nicht erhalten hattest, wollte ich es dir persönlich sagen.

"Glaubst du etwa, ich freue mich? Glaubst du wirklich ich würde euch gratulieren? Ja, die Karte ist angekommen. Na und? Meine Mutter heiratet und ich darf nicht dabei sein!!!! Was glaubst du denn, was ich davon halte?"

Deine Worte, hart und unerbittlich, habe ich nicht vergessen. 

Ich war enttäuscht, traurig und ja auch ungehalten. Dein Verhalten hat mich tief verletzt. Es war doch meine Hochzeit und nicht deine? Für eine Feier mit allen Kindern und Enkelkindern, 13 +2 Personen, mit Kaffeezeit und Abendbrot, hätte wir keine Hochzeitsreise machen können. Nein, das wollten wir beide nicht. Heute denke ich, du wärst nicht gekommen, da ja alle Kinder von Michael auch dabei gewesen wären. Die heimliche Hochzeit konntest du mir nicht verzeihen.

 

Fragen, auf der Suche nach Antworten

Ich wurde zu einer verlassenen Mutter, wie man heute Eltern/Mütter bezeichnet, deren Kinder den Kontakt abgebrochen haben. Und ja, in der Regel wird ihnen auch die Schuld daran zugewiesen. War ich wirklich Schuld? Schuldig woran? 

 

Liebe ich dich nicht, weil ich zu deinem Besuch auch noch spontane Gäste empfange?

Liebe ich dich nicht, weil ich von dir Respekt gegenüber meinem Besuch erwarte.

Liebe ich dich nicht, weil ich nicht jedes Verhalten von dir toleriere.

Liebe ich dich nicht, weil ich dich kritisiere.

Liebe ich dich nicht, weil ich auch mal NEIN sage? 

Liebe ich dich nicht, weil ich eine eigene Meinung habe?

Liebe ich dich nicht, weil ich mein Leben lebe, wie es mir gefällt?

Doch ich liebe dich. Ich liebe dich, auch wenn ich all dies tue. Ich bin keine schlechte Mutter. Ich habe mir nur ein anderes Verhalten deinerseits gewünscht. Ich hätte mich so gern, mit dir gemeinsam, über meine schönen Erlebnisse gefreut. Ist das wirklich so falsch?

 

Bin ich eine gute Mutter, wenn ich dir nach dem Mund rede?

Bin ich eine gute Mutter, wenn ich all deine Entscheidungen wohlwollend hinnehme?

Bin ich eine gute Mutter, wenn ich eine Woche lang keinen Besuch empfange, weil du da bist?

Bin ich eine gute Mutter, wenn ich deine Sichtweisen stets teile?

Bin ich eine gute Mutter, wenn ich so heirate, wie du es dir wünscht?

Bin ich eine gute Mutter, wenn ich mich verbiege, nur um dir zu gefallen?

Bin ich eine gute Mutter, wenn ich jedes Verhalten deinerseits akzeptiere?

Bin ich eine gute Mutter, wenn ich mein Leben so lebe, wie es dir gefällt?

Heute weiß ich, ich kann nur eine gute Mutter sein, wenn ich all dies nicht tue. Ich bin ein Mensch, wie jeder andere. Ein gutes Miteinander braucht Vertrauen, Liebe und jeder darf sein wie er ist. Michael und ich halten es so. Jeder hat seine Freiheit, zu tun was ihm Spaß macht, auch allein. Unterschiedliche Meinungen stören uns nicht, wir respektieren uns. Unsere Liebe ist über die Jahre gewachsen. Sie ist zu etwas ganz besonderem geworden. 

 

Ich war immer stolz auf dich

Ich wollte immer nur glücklich sein. Ich wollte immer, dass du glücklich bist. Zu meinem vollständigen Glück gehörtest auch du. All die Jahre, habe ich wieder und wieder über all das nachgedacht. Es hin und her gedreht. Wir konnten gemeinsam nicht glücklich sein. Wir konnten nur glücklich sein, jeder für sich. Ich wünschte mir so sehr, es wäre anders gewesen.

 

Immer und immer wieder frage ich mich, für was du mich bestrafen wolltest, ein Leben lang. Hatte ich das wirklich verdient? Ich habe mich so oft unter Druck gesetzt gefühlt, war verletzt, war enttäuscht, fassungslos und doch habe ich dich geliebt und hätte den Kontakt zu dir nicht abgebrochen.

 

Ich war all die Jahre stolz auf dich. Alles hatte ich also nicht falsch gemacht. Du gingst durch dein Leben. Du hast dich in deinen Job gekniet, immer offen für Neues, hast Erfahrungen gesammelt. Hast dein Leben gemeistert, gingst durch Höhen und Tiefen, hattest Freunde. So herrlich, dachte ich.

 

Ich habe mir all die Jahre, nur eines gewünscht, dass du den Kontakt wieder aufnimmst. Ich hätte dich einfach in den Arm genommen, dir gesagt das ich dich liebe und froh bin, dass du da bist. Wir hätten von vorn anfangen können, ohne die Vergangenheit, einfach auf Neustart. Du warst nicht bereit dafür. Leider.

 

Jetzt bist du tot

Mein Herz blutet, denn nun gibt es niemals mehr eine Chance. Du bist tot. Noch jetzt, mit deinem Tod, lässt du mir keine Chance einen kleinen Einblick in dein Leben zu erhalten. Laptop und Handy vollkommen gelöscht, nicht mal eine teilweise Wiederherstellung des Laptops hat etwas gebracht. Ein paar wenige Fotos von dir und B., denke ich. Dein Handy hatte ein paar wenige Telefonnummer im Speicher irgendwo. Sie alle habe ich informiert und so bin ich auf deinen Freund J. gestoßen. Er erzählt mir nun ein wenig. Auch deine Onkel Sch., dein Cousin M. und deine Cousine M. haben wir von dir geschrieben. Kleine Bruchteile aus deinem Leben. Ich bin ihnen dankbar, für jede Zeile. Ich würde so gern wissen was in dir vorgegangen ist. Warum du mich so überaus hart bestrafst. Antworten erhalte ich nicht, denn selbst diese hast du mitgenommen. Mitgenommen auf deinen Weg über die Regenbogenbrücke.

 

Ich liebe dich noch immer. Du bist in meinem Herzen.

In Liebe deine Mutti. 

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