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Brief an meine tote Tochter Jenny - Bist du an deinem Leben zerbrochen?

Bist du an deinem Leben zerbrochen?

Wieder sitze ich hier und schreibe dir. Meine Gedanken stehen nicht still. Auch wenn ich weiß, ich bekomme keine Antwort, frage ich mich immer und immer wieder warum.

4 Monate nach deinem Tod haben wir noch immer keine vollständigen Obduktionsunterlagen, die uns Fragen beantworten könnten. Wir wissen, dass diese Unterlagen die Fragen auch stehen lassen können. Doch ich möchte Klarheit, denn damit kann man besser leben bzw. trauern.

Ich denke die Polizei hat deine Akte schon geschlossen. Gestorben im Zeitraum vom 23.-25.05.2021 an einem Zuckerschock. Niemand hat sich für die Dinge interessiert, die wir bemerkt und gefunden bzw. nicht gefunden haben. Akte zu Deckel drauf. Erledigt.

Aber die Vermutung, dass du einen Suizid begangen hast, ist immerfort da. Es sprechen zu viele Dinge eine eindeutige Sprache und nach so langer Zeit, bis zu deinem Auffinden, gibt es einiges was nicht mehr nachweisbar ist.

Dinge, die wir nicht fanden

Wie kann es sein, dass ein gesunder Mensch, der morgens wieder zur Arbeit gehen möchte bzw. im Homeoffice arbeitet, ihren Laptop und ihr Handy vollständig löscht und sogar den Speicherkarten-Port vom Handy entfernt.

 

Es gab noch andere Dinge die wir merkwürdig finden:

  • Du wurdest im Schlafanzug im Bett gefunden.
  • Es war keinerlei Schmutzwäsche da, auch nicht deine Bekleidung vom Tag.
  • Es war kein Bettzeug vorhanden, dein Bett war unbezogen.
  • Es gab in der Wohnung nicht ein einziges Medikament, obwohl due er krank warst.
  • Ich fand einen Zettel im völlig leeren Terminplaner auf dem stand: Google-Account und Facebook löschen.
  • Deine Geldbörse war völlig leer. Es war kein Cent zu finden.
  • Die Wohnung war penibelst geputzt, selbst der Mülleimer war völlig leer.
  • Es lag wirklich überhaupt nichts rum, kein Zettel, kein Stift, kein Buch (du hast ja gern gelesen) oder irgendwas, wie es völlig normal ist, wenn man lebt.
  • Du hast deinen letzten Müll runter gebracht.
  • Du hast deine letzte Wäsche (auch die, die du an diesem Tag anhattest) gewaschen.
  • Die Wohnung machte einen fast unbewohnten Eindruck, so klinisch rein und aufgeräumt war sie.

All dieses hat in uns die Vermutung bestärkt, dass du sehr bewusst, den Weg über die Regenbogenbrücke gewählt hast. Dein Freund J. teilt mit mir diese Erkenntnis. Er ist der einzige Mensch, aus deinem Leben, der sich an mich gewendet hat, Antworten auf seine Fragen gesucht hat und mir die Vermutung, dass du mit Depressionen und einer Borderline-Störungen gekämpft hast, bestätigt hat. Nur ihm hast du dich dies bezüglich ein wenig geöffnet. Kein Mensch in deinem Umfeld hat geahnt, dass du krank warst.

Du wusstest, dass du krank bist und Hilfe brauchst und doch hast du Hilfe abgelehnt. Ganz besonders dann, wenn du sie gebraucht hättest. 

 

Dein Freund J. schrieb mir:

"... Ich habe mir eben den Eintrag zur Borderlinestörung durchgelesen. Ich gebe Ihnen recht: In Vielem, was da beschrieben stand, fand ich Jennys Reaktionen wieder. Die Phasen (Depression), …,  kamen schubweise. Im Nachhinein lassen die sich  gut daran festmachen, dass Jenny begann, von Unangenehmem zu sprechen, das ihr begegnete. Komisch für uns war nur, dass sie in solchen Situationen der direkten Unterstützung auswich. …"

Ich weiß nicht, was ich denken soll

Ich hadere damit sehr, dass du mich aus deinem Leben gelöscht hast. Hast du mich wirklich so gehasst? Bin ich wirklich ein Mensch, den man hassen kann? Ich weiß nicht was ich getan habe oder nicht getan habe, dass du mich so rigoros aus deinem Leben verbannt hast.

Ich habe gehofft, beim ausräumen deiner Wohnung noch Fotos von dir zu finden. Vielleicht auch Fotos von mir. Es gab nirgends ein Zeichen, dass wir Mutter und Tochter waren. Alles Fotos hast du gelöscht. Nur dein Onkel Sch., deine Tante S. und dein Cousin haben mir ein paar Fotos von dir geschickt. Ich wollte so gern, mein Kind sehen, wie es fröhlich lebte. Das dies nur im Wechselbad von Glück, Depression und Borderline geschah, war mir ja klar. Doch diese Gesicht hast du auf Fotos nicht gezeigt, auch wenn dass obige Fotos, für mich deine Krankheit offenbart. Für Menschen, die nichts von deiner Krankheit wissen, ist sie aber unsichtbar. Ich bin sehr dankbar, für die wenigen Fotos, die dein klares Lächeln zeigen. 

 

Das du mich geliebt hast und schützen wolltest schrieb mir eine gute Facebook-Freundin und dein Freund J.

Meine Facebook-Freundin R. schrieb:

"... Ich möchte nur mal einen anderen Gedankengang anvisieren. Vielleicht wollte sie dich nicht mehr mit der Krankheit belasten? Deshalb kein Kontakt? Oder sie wollte niemand belasten? ... Ich hatte in der Nachbarschaft auch ein junges Mädchen, die es wie durch ein Wunder überlebt hat. Die Mutter fragte nach dem Warum? Sie sagte, ich hatte das Gefühl wieder in eine schwere Depression zu verfallen und wollte nicht, da die Mutter schon so viel mitgemacht hat, dass es wieder von vorne losgeht. ..."

"Die Wahrnehmung ist eine andere bei Depressionen und Borderline. Ich denke, sie hat dich sehr geliebt und wollte dich schützen? Es ist die Bindungsstörung die es so schwierig macht. ...  Ich hatte eine Freundin, die auch alles hatte. Es gab soviel Warums , innerhalb von einer Sekunde war ich erst die Allerbeste, dann machte sie mich zur Schnecke. Es war ein Hin und Her, mal Kontakt mal keinen."

 "Aber vielleicht, auch wenn es für dich nicht so aussah, wollte sie dich schützen vor ihren Ausbrüchen." 

 

Dein Freund J. schrieb mir:

"... Wir werden auf unsere Fragen keine endgültige Antwort bekommen. Die Antworten hat Jenny mit über die Regenbogenbrücke genommen. Aber ich glaube nicht, dass Jenny mit Groll auf uns, aus dem Leben geschieden ist. Ihr Groll richtete sich nicht auf andere, er richtete sich gegen sich selbst.

Sie haben wunderschöne Bilder von Jenny mit auf die Webseite gebracht. Ja, das ist die Jenny, wie ich sie kannte: Lebensfroh und fröhlich. Und voller Hoffnung für die kommende Zeit. So wollte Jenny sein, im tiefsten Grunde ihres Herzens. Ich glaube, sie ist daran zerbrochen, dass sie aufgrund ihrer Krankheit nie so werden konnte, wie sie eigentlich sein wollte."

"An dieser immer wiederkehrenden Leere ist Jenny zerbrochen. Und nicht an uns. Sie hat das zu oft erlebt, als dass sie sich hätte damit aussöhnen können. Sie hat ihrem Leben nicht ein Ende gesetzt, weil sie es gehasst hätte. Sondern weil sie immer wieder von der schrecklichen Heimsuchung geplagt wurde, das Leben würde sie hassen.

Deshalb bleibt bei aller Trauer für mich das eigentliche Vermächtnis Jennys: Ich habe das Leben geliebt, aber nicht ausgehalten. Haltet wenigstens ihr durch!"

"Die Stille, in der sie gegangen ist, sollte uns wohl ermöglichen, unseren Weg weiterzugehen. Dieser tröstliche Gedanke passt haargenau zum Wesen jener Jenny, die ich gekannt habe."

 

Ich möchte diesen Gedanken folgen, doch meine Zweifel daran sind stärker. Ja, dein Freund J. kannte dich sehr gut, kennt auch diese Krankheit und er ist eine bewundernswerter Mensch. Ich bin froh, dass du ihn getroffen hast, denn solche Menschen gibt es nicht sehr häufig.

 

Zehn Jahre habe ich immer wieder überlegt, was ich tun könnte, diesen unsäglichen Kontakt-Abbruch zu beenden. Ich bin nicht wirklich zu Antworten gekommen. Zu hart waren deine Brüche, zu hart deine Vorwürfe oder Forderungen. Ich konnte nicht das Leben führen, dass dir gerecht geworden wäre. Dann hätte ich all meine Wünsche und Ziele begraben müssen und es wäre, für dich, immer noch nicht genug gewesen.

Trotzdem habe ich dich geliebt, viel an dich gedacht und gehofft, du würdest irgendwann auf Dauer glücklich werden. Doch diese Krankheit hat dein Leben immer wieder zerstört. Immer wieder, warst du tiefen Lebenskrisen ausgesetzt. Und ja ich kann verstehen, dass du diesem Leben ein Ende gesetzt hast. Wünschte mir aber von Herzen, du hättest Hilfe annehmen können. Dann hätten auch wir zwei sicher wieder zueinander gefunden. 

Ich wäre nur 22 Jahre alt geworden

Hätte ich damals nicht deinen Bruder gehabt, wäre ich nur 22 Jahre alt geworden. Als deine Schwester starb, wollte ich nicht mehr leben. Meine Ehe war ein Horrortrip und meine Eltern belächelten mich. Ich war mutterseelen allein in einer Stadt die mir fremd war. Ich kannte nur noch ein Ziel, die Gleise. Doch dein Bruder, noch ungeboren, begann im Bauch zu strampeln und erinnerte mich daran, dass ich gerade zwei Menschen umbringen wollte. Nein, deinen Bruder konnte ich nicht sein Leben nehmen. Also lebte ich weiter. 

 

Suizidgedanken habe ich immer wieder einmal. Ja, die Depression treibt furchtbare Blüten. Das Leben ist so schwer und niemand, der diese Krankheit nicht selbst mal erlebt hat, kann nachempfinden wie schwer das Leben sein kann.

Ich habe aber einen lieben Mann, dem ich versprochen habe zu leben und der mich im Leben hält. Jetzt war ich 11 Wochen in der Klinik, weil ich nach der Nachricht von deinem Tod nicht mehr leben wollte. Ich habe Hilfe angenommen, weil es meinen Mann und deinen Bruder gibt. Sie lieben mich und stehen hinter mir. Sie nehmen mich wie ich bin.

 

Ich muss mich nicht mehr verstellen und heute muss ich genau überlegen, für wen ich meine Entscheidung treffe. Ich habe zu lange (Jahrzehnte) immer Entscheidungen getroffen, die für andere gut waren oder die andere genau so erwartet haben. Es hat mich zerstört. 2011 brach ich zusammen und seither ist alles anders. Ich habe mich verändert. In den 10 Jahren Therapie habe ich viele gelernt, vor allem über mich selbst. Ich bin auf die Suche nach meinem Ich gegangen, auf Spurensuche nach dem, warum ich so bin wie ich bin und habe hart an mir gearbeitet. Jeder Tag ist für mich ein Kampf. Aus deinen depressiven Schüben, kennst auch du solche Tage, Wochen oder Monate.

 

Perfektionswahnsinn und Selbst-Ignorieren, kennst du auch, so wie ich. Deine penible Sauberkeit und Ordnung, sowie dein gnadenloser Arbeitseinsatz, zeigen dies deutlich. Ich habe gelernt mich nicht mehr zu ignorieren und das Perfektion unmöglich ist. Fehler machen den Menschen auch liebenswert. Jeder Mensch macht Fehler. Es gibt keinen Menschen der nicht Fehler macht. Aus unseren Erfahrungen lernen wir und so kommen wir voran im Leben.

Bei mir dauert es nun schon 11 Jahre. Viel zu spät habe ich Hilfe angenommen, denn die hätte ich schon 1983 gebraucht. Damals wussten allerdings nur wenige von Depressionen oder Trauma und die Behandlungsweisen waren nicht gerade sinnig. Deine Großeltern hätten die Welt nicht mehr verstanden. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Heute ist es anders. Heute bekommt man sehr gute professionelle Hilfe, wenn man sie möchte. Ich weiß nicht ob du wusstest, das ich mehrfach für 12 Wochen in einer Traumaklinik war. Ich weiß nicht, ob deine Großeltern dir es erzählt haben. Ob es dich überhaupt interessiert hat. Traumaklinik ist kein Kinderspiel und bedeutet 12 harte Wochen. Doch ich bin voran gekommen und kann wieder besser leben. Möchte wieder leben. Auch wenn die Tage schwer sind und ich mit Dingen kämpfe, die normale Menschen, in ihrem Alltag kaum mehr bemerken, so selbstverständlich sind sie. Ich glaube du weißt sehr gut wovon ich sprechen. 

 

Im Gegensatz zu dir, habe ich meine Maske, die ich Jahrzehnte trug, vom Gesicht gerissen. Ich wollte sie nicht mehr. Ich wollte leben, wie ich bin und so gut ich konnte. Ich wollte mich nicht mehr verstellen, für niemanden. Ich weiß nicht, ob es dir gefallen hätte. Dein Bruder kann damit gut leben, so dass ich mich bestärkt darin fühle, zu leben wie es mir gefällt. 

Du warst mutterseelenallein, wie ich

Ich weiß nicht, ob deine Wahl nach Berlin zu ziehen, wirklich gut für dich war. Ich glaube wirklich wohl hast du dich dort nie gefühlt. Da aber deine Cousinen und dein Cousin dort lebten und du zu ihnen einen guten und regelmäßigen Kontakt hattest, hast du dich wohlgefühlt. Bis dann alle Berlin verließen und deine neue Liebe zerbrach. Nun warst du, wie ich damals mutterseelen allein. Nein, dein Freund J. konnte das nicht ausgleichen.

 

Was dir fehlte waren deine engsten Verbündeten und ein Mann der dich liebte. Menschen, für die es sich gelohnt hätte Hilfe anzunehmen, für dich selbst zu kämpfen, um mit der Krankheit besser umgehen zu können.

Gerade jetzt, war dir der Weg zu mir versperrt. Nein, es wäre dir nicht in den Sinn gekommen, dich bei mir zu melden. Wenn du gewusst hast, dass ich auch Depressionen habe, war dir bewusst, dass ich sehen würde, wie es dir wirklich geht. So wolltest du dich niemandem zeigen und schon gar nicht mir.

 

Bei dem Gedanken könnte ich weinen, doch Tränen habe ich schon lange nicht mehr. Es bleibt nur der Schmerz der ungeweinten Tränen. Vielleicht hätte ich dir helfen können. Vielleicht hätte ich dir genug Halt geben können, um weiter zu leben. Ich weiß es nicht. Anders, als meine Eltern, wäre ich so gut ich kann, für dich dagewesen. Auf jeden Fall hätte ich dich sehr ernst genommen in deinen Worten und Gefühlen. Mehr hätte ich sicherlich nicht tun können und ich weiß nicht, ob das gereicht hätte. 

 

Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass dir meine Eltern geholfen haben, hinter dir gestanden haben. Ich habe es nur selten erlebt. "Es war doch schön, es kann ja nicht so schlimm gewesen sein, lebst ja noch", sagte deine Großmutter zu mir, als ich in ihrem Erinnerungsalbum die Fotos meiner ersten Ehe sah und sie schockiert fragte, warum sie die aufgehoben hatte. Ich war fassungslos. Ein Ehemann der mich schlug, weil ich das Falsche gesagt hatte, weil ich zum Arzt musste, weil er getrunken hatte, weil ihm meine Anwesenheit störte ... Nein, es waren nicht nur Ohrfeigen. Er trat mich so gar in den Bauch, als ich mit André schwanger war. "Reiz deinen Mann doch nicht immer, dann hat er keinen Grund dich zu schlagen"; sagte mein Vater damals zu mir. Es war doch nicht so schlimm, sprach meine Mutter, zwei Jahre bevor sie starb, mit voller Überzeugung. Genau deshalb wollte ich damals sterben. Ich hatte niemandem, der mich liebte wie ich war. Ich war allein. Genau wie du.

 

Damals wie heute habe ich aber doch noch Menschen gehabt, die mich liebten. Dein Vater war damals mit uns befreundet und half mir, es mit meinem Mann auszuhalten. Ich wusste das dein Vater mich liebt, doch konnte ich mich nicht trennen, auch wenn mein Leben die Hölle war. So konnte ich leben, für mich und deinen Bruder. "Siehst du, hab ich doch gleich gesagt, deine Ehe hält kein Jahr", hätte mein Vater, mich wieder einmal belächelt. Erst ein Jahr nach Andrés Geburt fand ich den Weg heraus aus dieser Ehe. Dein Vater war an meiner Seite.

Heute ich ist Michael, nun schon seit 16 Jahren an meiner Seite. Auch wenn wir in den ersten Jahren viele Widerstände und Probleme bekämpfen mussten, wusste ich immer, dass er meine Liebe verdient hatte. Ich habe mich nicht geirrt. Auch er hätte an deiner Seite gestanden, wenn du es zugelassen hättest. Ganz sicher. Er ist ein wunderbarer Mann und Ehemann. Ihm habe ich versprochen, dass ich lebe. Lebe für ihn und deinen Bruder.

 

Genau solche Menschen haben dir gefehlt. Wieder einmal war dein Leben den Bach runter gegangen, wie du es sagen würdest. Nun war niemand mehr da, in dieser großen Stadt Berlin. Niemand mehr, der am Abend auf dich wartete, sich deine Sorgen und Nöte anhörte, der dich liebte. Niemand mehr, der mit dir um die Häuser zog. Deine Cousine und beste Freundin, dein Cousin, weit weg und unerreichbar. Nein WhatsApp und Telefon halfen da nicht weiter. 

 

Du warst allein.

Du hast aufgegeben.

Du wolltest dieses Leben nicht mehr.

Du bist an diesem Leben zerbrochen.

 

Am 25.05.2021 fand dich die Polizei, tot in deiner Wohnung. Der Himmel hatte nun einen Engel mehr.

 

Ich liebe dich mein Engel, deine Mutti

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