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Brief an meine tote Tochter Jenny - Sichtweisen und Fragen die nichts mehr ändern und nicht mehr beantwortet werden

Brief an meine tote Tochter Jenny - Sichtweisen und Fragen

Liebe Jenny,

meine Gedanken stehen nicht still. Immer wieder spreche ich mit dir, auch wenn du mich nicht mehr hören kannst. Ich habe so viele Fragen, finde Antworten, die mir nicht gefallen. Ein paar wenige Menschen schrieben mir ein wenig aus deinem Leben. Ich glaube dein Cousin M. und dein Freund J. haben wirklich gesehen, was in dir wühlte, was dir dein Leben schwer gemacht hat. Auch wenn M. keine Ahnung davon hatte, dass du schwere depressive Schübe hattest, ahnte er doch unwissend, dass du etwas gesucht und nicht gefunden hast. Im Briefwechsel mit J. bestätigte er meine Annahme, dass du depressiv warst und ja auch meine Annahme, das da noch eine Borderline-Störung vorhanden war. J. bestätigte mir auch, dass du wusstest das du psychologische Hilfe brauchtest, diese aber abgelehnt hast. Leider. Die Hilfe hätte dir helfen können, deine Wünsche zu ordnen und ja auch Wege zur Erfüllung deiner Sehnsüchte aufzeigen können. Ich weiß das sehr genau, weil ich seit 11 Jahren psychologische Hilfe annehme und gerade jetzt wieder annehmen musste, um weiter leben zu können. Weiter leben zu können, ohne dich. So sitze ich hier und schreibe. Schreibe, was in meinem Kopf vorgeht. Schreibe, damit ich überleben kann, ohne dich. 

Deine Freunde schrieben mir

M. schreibe mir: "Seit meiner “Neuentdeckung” von Jenny kam sie mir immer ein bisschen wie ein getriebener Mensch vor. Jemand der sucht, aber nicht findet. Sie war es immer, welche mich am dollsten und längsten gedrückt hat. Ein Ausdruck von dem Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit."  …  "... Bitte verstehe, weshalb ich dir zuvor schrieb, wie sehr ich Jenny als jemanden sah, der Familie suchte und brauchte. … Ich bin davon überzeugt, dass sie Kinder mit B. haben wollte und dass sie Aufgrund ihres Alters diesbezüglich unter selbst gemachtem Druck stand."

 

S. schrieb mir: "... Jenny hat mir vor ein paar Wochen noch einmal gesagt, dass sie ihre Hochzeit aus einem Grund nie bereut hat. Es war ein schönes Familienfest, es war ein sehr schöner Tag. Jenny wollte immer Familie um sich herum haben."  

 " … Ich habe B. öfter gesehen .. , dass ich es gar nicht glauben konnte, dass B. Schluss gemacht hat. Das kam für alle wie aus heiterem Himmel. Jenny war zerstört. Die ersten Monate nach der Trennung von B. ging es ihr sehr schlecht. Aber dann hat sie sich Hilfe geholt. …"

 

J. schrieb mir

"Jenny hatte die Eigenart, sich in ihren persönlichen Beziehungen immer wieder an Menschen zu binden, die sie lediglich benutzen wollten, um eigene Probleme auszuleben. Sie spürte das wohl, manchmal wusste sie das auch. Und wollte das oft trotzdem nicht wahrhaben." 

 

Nach außen wirkte sie immer sehr fröhlich. … Dass sie im Innersten oft traurig und zerrissen war, haben nur die aller wenigsten mitbekommen. Sie hätte statt der fröhlichen und oberflächlichen Menschen eher welche gebraucht, die verlässlich gewesen wären und echte Ruhepole. Menschen zum Anlehnen eben, bei denen sie hätte zur Ruhe kommen können. …"

 

Jenny war zutiefst depressiv veranlagt, konnte das aber weitgehend überspielen. Mir und meiner Frau gegenüber hat sie sich in dieser Frage ein wenig geöffnet. Für uns war zu erkennen, dass sie mit der Depression in ärztliche Betreuung gehört hätte. Unseren entsprechenden Ratschlägen wich sie aber immer wieder aus.

 

Wie glücklich waren wir, als sie wohl 2018/2019 B. kennenlernte. Für uns erschienen die Beiden ein Traumpaar zu sein. Jenny blühte förmlich auf, schmiedete Pläne für Zukunft und Familie. 2020 verfinsterte sich die Lage plötzlich. Die Auskünfte dazu, wie das entstanden war, waren eher wortkarg. Jedenfalls war zu spüren, dass Jenny ziemlich unerwartet aus dem siebenten Himmel gestürzt war. "... Dennoch reichte es aus, dass Jenny völlig erschüttert war und nur noch wegwollte, um von dieser Situation um nicht mehr endlos durchgeschüttelt zu werden. …"

 

"... Zu spüren war, dass sie auf Arbeit eigentlich unglücklich war. Sie überforderte sich dort körperlich und mental völlig. Wir hatten ihr mehrmals geraten, dort auf die Bremse zu treten, weil zu merken war, wie sie dabei über ihre Kräfte hinausging. …"

"... Dass unsere Kommunikation im Mai plötzlich abbrach, war schon komisch und machte uns unruhig. Aber solche Phasen hatte es immer wieder gegeben: Jenny brauchte uns dann nicht oder sie wollte mit irgendetwas alleine fertig werden. …"

 

Warum ich es dir schreibe

Ich glaube, wenn ich eine Chance gehabt hätte, den Kontakt zu dir wieder aufzunehmen, hätte ich meine Ahnung bestätigt gesehen, dass du auch depressiv bist. Aus den spärlichen Informationen, die ich hatte, und meinen eigenen Erfahrungen mit dir hast sich mein Bild von dir zusammengesetzt. Ein Bild, dass mir eine junge Frau zeigt, die Hilfe braucht. Ja, auch wenn du nun den Kopf schüttelst.

Ich bin 2011 psychisch zusammen gebrochen. Ich weiß nicht ob du davon wusstest. Deine Großeltern habe es ja lange Zeit einfach negiert. Aber ich konnte nicht wieder in mein altes Leben zurück und bin seit 2013 auf Grund der psychischen Beeinträchtigungen berentet. Ich habe seither viel über Depression, Persönlichkeitsstörungen und Trauma gelernt. Was deshalb mehrfach in Kliniken. Mir wurde sehr klar, dass ich mein altes Leben nicht mehr weiter führen konnte. Es hatte mich zerstört. Mit immer mehr Wissen wurde mir aber auch klar, dass meine beiden Kinder von dieser Krankheit auch betroffen sind. André nimmt seit Jahren nun schon auch Hilfe an. Hilfe, die du leider abgelehnt hast. 

 

Deine immer hochexplosiven Reaktionen auf Konflikte, deine Handlungsunfähigkeit bei einer Trennung von einem Freund oder anderen Konflikten, deine Essstörungen, wenn es in der Beziehung kriselte. Nichts ist mir unbekannt und alles deutet auf deine psychische Beeinträchtigung. In der Not hast du Hilfe gebraucht und hast sie aber oft abgelehnt. Du hast gebloggt oder tagelang getigscht, wie ich immer sagte. Wenn es für dich gut war, bist du einfach wieder zum Alltag übergegangen. Ob die anderen Menschen, dass auch konnten, war niemals eine Frage für dich.

 

Du hast dich oft zurück gezogen, warst abweisend und hast versucht deinen Konflikt allein zu klären. Es gelang dir manchmal, glaube ich. Andererseits zeigen deine Trennungen von Freunden, dass es nicht funktionierte. "Mein Leben geht gerade wieder mal den Bach runter"; hast du mich mal abgewiesen, als die Trennung von St. in der Schwebe war. Nein, ich war nicht für diese Trennung verantwortlich. Für dich ging dein Leben den Bach runter. Das war so. Genau so hast du es gefühlt und erlebt. In solchen Zeiten war es, für dich, immer sehr schwer, positiv zu denken, nach vor zu schauen.

 

Es passierte dir aber leider wiederholt. Immer wenn ich dachte, nun ist es der Richtige, hast du dich getrennt oder wurdest verlassen. Dein Leben ging also in Wiederholungsschleife den Bach runter. Aus dem Glück heraus, auf die Nase gefallen. Ich glaube die Trennung von B., war eine Trennung zu viel, für dich. Das ist schlimm und ja, da ist man tief getroffen. Aber für dich war es schlimmer. Viel schlimmer. Für dich war wieder einmal dein Leben den Bach runter gegangen. Dein selbstgemachter Druck, wie M. es beschreibt, war noch ein weiterer Aspekt, der dir den Boden unter den Füßen nahm. Wieder folgte eine tiefe emotionale Krise.

 

Diese Krisen hattest du bei jeder Trennung, ob du oder dein Partner die Beziehung beendet hast. Diese Krisen waren weit heftiger, als es bei Trennungen "normal" ist. Ich glaube, du hast viel Kraft gebraucht, um sie durchzustehen und es wäre besser gewesen, wenn du dabei psychotherapeutische Hilfe angenommen hättest. Du wärst diesen Krisen auf den Grund gegangen und hättest Handwerkszeug erhalten, dagegen zu halten. So bist du von einer Krise in die nächste gefallen. Schrecklich. 

 

Nein, ich glaube nicht, dass du mir zugehört hättest. Du wärst explodiert und hättest mir Vorwürfe gemacht "jetzt willst du mich auch noch in die Klapse bringen", oder ähnlich. Aber heute wüsste ich, ich hätte es wenigstens versucht. So musste ich von Außen zuschauen, soweit wie du es überhaupt zugelassen hast. Aber schon damals bei der Trennung von Jan und von dem "alten Mann", war ich mir sicher, dass du nicht gesund warst. Dein Verhalten war einfach zu heftig. Doch damals wusste ich noch nicht, zu was eine kaputte Seele fähig ist. Heute muss ich damit leben, dass du tot bist. Das du entschieden hast zu gehen. Glaube ich.

Die Familie die du suchtest

Ich kann sehr gut verstehen, dass du eine Familie suchtest. Menschen denen du vertrauen konntest, die ehrlich zu dir waren, die zu dir standen und die Halt geben konnten, wenn es notwendig war. Ich verstehe es so gut, weil ich auch viele Jahre danach gesucht habe.

 

Nein, meine Familie stand nicht hinter mir. Es gab mich, mehr nicht. Deshalb haben wir auch selten Besuch von ihnen erhalten. "Ich wollte nicht in diese doofe Stadt, es war mir auch zu weit"; sagte mir deine Großmutter ein paar Jahre vor ihrem Tod. "Ich war es, nicht dein Vater, der nicht zu dir wollte". Das hat mich sehr getroffen, andererseits wusste ich nun (nach 30 Jahren), warum wir nur zur Schuleinführung und Jugendweihe, Besuch von deinen Großeltern hatten.

 

Ich war mit euch Kindern immer auf mich allein gestellt. Alles was ich jemals geschafft habe, habe ich mir erkämpft. Mit all meinen Problemen war ich allein, da die Männer an meiner Seite, nie wirklich zu mir gestanden haben. Ich habe gekämpft für mich und für meine Kinder. Ihnen sollte es gut gehen und sie sollten nicht erleben, was ich in der Kindheit erleben musste. Mein Vater war ein Despot, super streng und sein Sarkasmus tat weh. Selbst als ich mit euch im Urlaub bei meinen Eltern war, konnte er es nicht lassen. Ich schaffte es nicht, ihm gegenüber, stand zu halten. "Geh mal raus, wir wollen ein Familienfoto machen", niemand von meinen Geschwistern sagte etwas. So wurde das Familienfoto ohne uns drei gemacht. Das war meine Familie.

 

Der gute Kontakt zu deinen Großeltern wunderte mich daher sehr. Deine Oma hat nie den Eindruck gemacht, der Kontakt zu dir, wäre ihr wichtig gewesen. Wenn sie etwas erzählte, dann sehr oft, nur in kurzen und abwertenden Sätzen. "Sie hat jetzt geheiratet. Du brauchst dir aber keine Vorwürfe zu machen, sie lässt sich schon wieder scheiden". Kein Wort davon, dass sie zu deiner Hochzeit bei dir gewesen ist.

 

Das ihr einen guten Kontakt hattet, erfuhr ich erst aus Briefen, die ich fand. Sie alle zeigten mir eine Frau, die ich nie kennengelernt habe. Ich war total betroffen und konnte es nicht fassen. Ich hätte mir nur einen dieser Briefe von ihr gewünscht. Ich habe, wenn überhaupt, nur Karten erhalten wo drauf stand: … wünschen dir deine Mutter und dein Vater. Pass auf, dass dir Michael nicht auch wegläuft", oder ähnliches. Naja, für sie war eben klar, mit mir konnte man es nicht aushalten und dieses Denken, hat ja leider deine Verurteilung bestärkt. Anders kann ich mir nicht erklären, warum du so hart den Kontakt zu mir abgelehnt hast.

 

Natürlich freute ich mich, dass du gute Kontakte zu deinen Großeltern und Cousinen/Cousins hattest. Es war gut zu wissen, dass du Menschen um dich rum hattest, die dir gut taten. Du hättest auch deine Mutter und deinen Bruder haben können, doch uns beide hast du einfach aus deinem Leben gelöscht, als wenn es uns nie gegeben hätte. Ich war ganz sicher nicht die aller beste Mutter, doch ich habe mein Bestes gegeben. Ich habe immer versucht, auf dir irgendwie gerecht zu werden, was unmöglich war. Ich habe immer zu dir gestanden und wenn du Hilfe brauchtest war ich da, so wie dein Bruder auch.

 

Auch wenn du es nicht hören möchtest, deine Großeltern haben mich zu dem Menschen werden lassen, der ich war und noch immer bin. Ich habe Jahrzehnte damit verbracht, gut genug für sie zu sein, alles in ihrem Sinne richtig zu machen. Es ist mir nie gelungen und vor ein paar Jahren, in einer Therapie habe ich beschlossen, diesem ein Ende zu setzen. Nein, heute möchte ich nicht mehr meinen Eltern gefallen. Ich möchte ihnen nicht mehr gerecht werden. Heute möchte ich leben, so gut wie ich kann und ich bin es wert geliebt zu werden. Mit Michael steht an guter Mann an meiner Seite, der mich liebt und der von mir sagt: "Du bist etwas ganz besonderes". Ja, wir haben uns zusammen gerauft und sind heute beide glücklich, das wir uns haben. Dein Bruder sagte mal zu mir: "Michael hätte dir früher begegnen sollen". 

 

Ich weiß nicht warum du den Kontaktabbruch zu mir so rigoros durchgezogen hast. Auf Fotos die wir fanden, war ich nicht zu sehen und teilweise waren die Foto beschnitten oder rausgerissen, aus deine alten Kinderalben. Nicht mal meinen Exmann hast du so schonungslos, wie mich, gelöscht. Ihn konnte ich auf Fotos finden. Es hat mir unheimlich weh getan und es drängt wieder die Frage nach dem Warum. Sie wird niemals mehr beantwortet und ich kann auch keine Antwort finden. Nur eine Erklärung habe ich, dass es diese Krankheit (Borderline-Störung) war, die dich hat so gnadenlos handeln lassen hat. Es tut so unendlich weh.

 

All die Jahre hab ich immer auf ein Zeichen von dir gehofft. Hab ich gehofft irgendwer, wie zum Beispiel deine Oma, würde dich bitten, mir eine Chance zu geben. Hätte dein Freund J. es gewusst, hätte er es ganz sicher versucht. Aber in meiner Familie gab es niemanden, der einen Versuch unternahm, dich umzustimmen. Es blieb wie es war. Manches mal fragte ich nach dir, immer und immer wieder und doch bekam ich nur einsilbige Antworten. Später fragte ich nur noch, ob es dir gut geht. Im Wissen, dass es dir gut geht, konnte ich damit leben, dass du mich aus deinem Leben verbannt hattest. Nein, es war mir überhaupt nicht egal und ich wäre glücklich über eine Chance gewesen. Nein, ich hätte dir keine Vorwürfe gemacht. Ich hätte einfach nur versucht, ganz neu, mit dir wieder zu beginnen.

 

Sogar deiner Tante S. gabst du diese Chance. Eine Frau, für die wir nie wichtig waren. Die sich nie um dich gekümmert hat. Die du nie leiden konntest. Selbst zu ihr hattest du wieder Kontakt und sie durfte auf deiner Hochzeit tanzen. Sie hatte die Chance, ich nicht.

Du hast deine Hochzeit nie bereut, auch wenn die Scheidung sehr schnell hinterher kam. "Es war eine schöne Familienfeier". Ja, ganz sicher. Alle waren da, sogar deine Oma machte sich auf den weiten Weg. Nur deine direkte Familie, deine Mutter und dein Bruder, fehlten. André war der einzige, der sein Unverständnis dir gegenüber aussprach. Seither war der Kontakt zu ihm auch auf Eis gelegt. 

 

Ich bin so unendlich traurig. Es tut so unendlich weh. Du bist tot und nichts aber auch nichts wird das ändern. Ich kann noch viele Seiten beschreiben, aber ändern kann ich es nicht. Jetzt wo du tot bist, haben wir wieder Kontakt. Naja, jetzt kannst du ihn nicht mehr ablehnen und ich nutze das Schreiben, mit diesem Wahnsinn umzugehen. Ich hoffe, du liest meine Zeilen und verstehst mich ein wenig. Denn irgendwann komme ich auch da oben an und dann werde ich dich suchen. Gott wird mir dabei helfen, dich zu finden. Ganz bestimmt.

 

In Liebe deine Mutti

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