· 

Brief an einen guten Freund meiner toten Tochter Jenny

Brief an einen guten Freund meiner toten Tochter Jenny

Vorwort:

Heute bekam ich eine Email, von einem guten Freund meiner Tochter. Vorausgegangen war ein Treffen mit ihm, in der Wohnung meiner Tochter. Menschen wie er, sind mir in meinem Leben nur sehr wenige begegnet. Ich bin sehr dankbar und froh darüber, dass dieser Mann (und seine Frau) an Jennys Seite war. Ihr geholfen hat, wenn Not am Mann war, zu ihr gestanden hat. Anders als andere Freunde von Jenny, hat er den Kontakt gesucht und mich auch ohne Vorverurteilung angenommen. Er hat nachgefragt und von Jenny erzählt, wie er sie erlebt hat und auf seine Fragen, Antworten gesucht. Er wäre einer gewesen, der meiner Tochter den Weg zu mir, ans Herz gelegt hätte. Er hätte es versucht. Aber sie hat das Thema abgelehnt.

Sein Brief zeigt wiederum sein Interesse zu verstehen. Auf der Suche nach Antworten, wie ich selbst. Er liest nach, will wissen. Das hat mir gut getan. Auch wenn das Treffen und die Wohnung mich hart an meine Grenzen gebracht haben. Sein Mitgefühl und seine eigene Trauer konnte ich direkt sehen und hören. Und nun sitze ich hier und schreibe öffentlich meine Antwort (mit seiner Zustimmung). Warum? Aus dem einzigen Grund, Kenntnisse über die teuflische Krankheit Depression zu vermitteln. Noch immer wissen viel zu wenig Menschen, was sie bedeutet. Das kann ich nur ändern, wenn ich darüber rede/schreibe.  


Eine Email, die mir das Herz zerriss

Liebe Frau Pfennig,

ich hoffe, Sie haben den Weg durch die Stadt gut gefunden. Ich habe mich an einer Stelle verfahren, habe es aber in zumutbarer Zeit geschafft.

Für mich war es gut, dass wir uns getroffen haben. Wenigstens einige der Fragen, die sich mir in den letzten Wochen aufgedrängt haben, sind nun beantwortet.

Ich habe mir eben den Eintrag zur Borderlinestörung durchgelesen. Ich gebe Ihnen recht: In Vielem, was da beschrieben stand, fand ich Jennys Reaktionen wieder. Allerdings war sie auch nicht der klassische Fall, denn über längere Zeit funktionierten Beziehungen zu ihrem Umfeld deutlich konfliktfrei. Und zwar in großer Breite. Dann war von den Depressionen auch nichts zu spüren, sie war fröhlich, anziehend und ausgelassen. Und das ohne jene Mühe, die ausufernde Selbstkontrolle mit sich gebracht hätte.

Die Phasen, in denen das nicht so war, kamen schubweise. Im Nachhinein lassen die sich  gut daran festmachen, dass Jenny begann, von Unangenehmem zu sprechen, das ihr (meist auf Arbeit) begegnete. Aber diese Wahrnehmungen wichen meist nicht sehr dramatisch von dem ab, was man eben auf Arbeit auch erleben kann. Komisch für uns war nur, dass sie in solchen Situationen der direkten Unterstützung auswich. So hatten wir ihr vorgeschlagen, in die Firma zu wechseln, in der unser Sohn arbeitet, als sie von Problemen auf ihrer letzten Arbeitsstelle berichtete. Man hätte  sie förmlich auf Händen getragen, wenn sie die ihr angebotene Tätigkeit angenommen hätte.

Für uns war das etwas seltsam. Dass Jenny längst begonnen hatte, sich von einer für sie unverstehbaren Welt zu verabschieden, haben wir nicht im Entferntesten geahnt.

Was Sie erzählt haben, stärkt mich in der Überzeugung: Keiner von uns hätte es schaffen können, sie von dem Weg abzubringen, für den sie sich entschieden hatte. Es gibt Sachen auf dieser Welt, die sind stärker, als all unsere Fähigkeiten. Das ist traurig. Aber auch so kann Leben sein.

 

Ich grüße Sie herzlich Ihr J. 


Antwort an J., den guten Freund meiner Tochter

Lieber J., 

vielen Dank für Ihre lieben Zeilen, die mich sehr bewegt haben. Für mich war heute ein Tag der Konfrontation. Ich war in der leeren Wohnung meines toten Kindes und traft dort einen guten Freund von ihr. Es ist das eine, wenn ich weiß das Jenny tot ist. Das andere, es aus Ihrem Mund zu hören. Das eine zu wissen ihre Wohnung ist leer und sie kommt nie mehr wieder. Das andere in der leeren Wohnung zu stehen. Das eine aus meinem heutigem Wissen heraus und aus meinen Erfahrungen zu wissen, dass Jenny Depressiv war und sehr wahrscheinlich eine Borderlinestörung hatte. Das andere nun von Ihnen die Bestätigung zu erhalten. Sie haben auf meine Worte hin, sich belesen, um sich Ihre Antworten zu holen. Die meisten Menschen tun dies leider nicht. Für Sie war es selbstverständlich. Ich bin dankbar dafür, dass ein Mensch wie Sie, an der Seite meines Kindes war. Auch wenn sie sich in ihrer Seelennot nicht helfen lassen wollte. Leider.

 

Ich möchte Ihnen nun schreiben, warum Jenny ein sehr klassischer Fall von Borderlinestörung/Depression ist. Wie die meisten Menschen wissen Sie sehr wenig über diese Krankheiten und vor allem darüber wie gut man diese verstecken kann. Da Sie aber Antworten suchen, versuche ich ein paar Fragen zu klären.

 

Borderlinestörung und Depression sind sehr oft im Verbund. Beide Störungen kommen in der Regel Schubweise. Es können zwischen den Phasen Monate aber auch Jahre liegen. Geschuldet ist das oft mit frischer Liebe, Zufriedenheit im Alltagsleben (Arbeit). Häufen sich aber Probleme oder Problemchen werden sie irgendwann zu einem Berg. Dann schalten sich die beiden Krankheiten gemeinsam oder aber auch getrennt wieder ein. Jenny, hat wie ich Jahrzehnte lang, eine gute sitzende Maske getragen. Viele Depressive tragen diese Maske. Im Arbeitsleben sitzt die Maske perfekt, so dass niemand auch nur die Idee bekommt, der Mensch leidet unter Depressionen oder einer Borderlinestörung. Ist der Mensch aber dann zu Hause fällt die Maske, oft klirrend zu Boden. Die Welt bricht auseinander und man ist ihr hilflos ausgeliefert. Man hat sich nicht mehr unter "Kontrolle". Doch die Kontrolle eines selbst wird perfektioniert. Das heißt Ordnungticks, Überstunden, Perfektionswahnsinn werden immer weiter verstärkt. Damit lässt sich bei Jenny vieles erklären. Nein, ihre Ordnungsliebe war nicht positiv, sie war krank. 

 

Sie wissen, dass ich auch psychisch krank bin. Seit 11 Jahren ist mein Leben auf den Kopf gestellt und viele Dinge die früher leicht und locker waren, sind heute Stress. Meine Depression wird mal besser und mal stärker. Mehr nicht. Sie ist chronisch, weil ich viel zu spät die richtige Ärztin, mit der richtigen Diagnose, traf. Es war zu spät dafür die Depression zu heilen oder dauerhaft zu bessern, auch deshalb weil sie mit Trauma verknüpft ist. Ich lebe damit und ich lebe weiter damit, weil ich es meinem Mann versprochen habe. Ich war jetzt 12 Wochen in der Klinik, weil ich nicht mehr leben wollte. Im Gegensatz zu meiner Tochter habe ich Hilfe angenommen. Aber ich habe ja auch einen Menschen an meiner Seite, der mich liebt und mich nimmt wie ich bin. Den hatte Jenny nicht mehr. Ich glaube sie konnte nur schwer allein leben. Sie hätte genau jetzt, einen liebenden Partner gebraucht.

 

Sie hat sich von mir, ebenfalls mit einem Paukenschlag "verabschiedet". Ich wollte mit ihr Unstimmigkeiten klären und Antworten auf ihr unpassendes Verhalten. Sie hörte nicht zu, stand nach 2 Sätzen von mir auf , packte ihre Koffer und ging. Das war Neujahr 2010/11. Es war ganz sicher nur der letzte Tropfen in ihrem Fass, da sie mir sehr übel genommen hat, dass sie bei unsere Hochzeit nicht dabei sein durfte, wir heimlich geheiratet hatten. Niemand wusste es, keines unsere insgesamt 5 Kinder. Alle waren freudig überrascht und gratulierten uns. Jenny nicht. Von ihr hagelte es Vorwürfe, die ich geduldig hinnahm.  Danach war auch Funkstille, die ich nur mühsam wieder auflösen konnte.

 

Nein, ich konnte und wollte nicht mehr, dass Leben führen, was sich meine Tochter vorstellte. Ich wollte nicht mehr vor jedem Anruf überlegen was ich ihr erzählen konnte und was nicht. Ich wollte endlich mit 50 Jahre MEIN Leben leben. Das konnte sie nicht verstehen. Ich hatte damals keine Kraft mehr, für die ständigen Vorwürfe und für mich unerfüllbaren Wünsche meiner Tochter. Ich liebte sie von ganzem Herzen, aber ich wollte auch leben wie es mir gefällt. Ein paar Monate später kam mein Aus auf ganzer Linie. Ich konnte nicht mehr. Ich habe in diesem Jahr (2011) ein schwarzes Loch von ungefähr 8 Wochen, bis ich in der Klinik langsam wieder zu mir kam. Meine Seele hatte alle Schalter ausgeschaltet. Davon hat Jenny nichts mehr mitbekommen. Als ich nach einem halben Jahr so leidlich wieder im Leben war, konnte ich den Bruch nicht mehr kitten. Sie hatte zwischenzeitlich nicht mit uns telefoniert. Ich war krank und konnte ihr nicht mehr standhalten. Ein sporadischer Kontakt brach bald ganz ab.

 

Mit meinem heutigen Wissen und Erfahrungen, hätte ich gewusst, dass Jenny krank war und das diese übersteigerten Reaktionen von ihr, auch krank waren. Ich glaube, sie hatte schon frühzeitig die Borderline-Störung entwickelt. Sie reagierte bei Kritik immer hoch emotional und sprach dann wochenlang nicht mit mir. Wir nannten es tigschen (verwand mit bockig). Ich weiß nicht wie viele Kinder es gibt, die ihre Mutter tagelang ignorieren konnten, meine Tochter konnte es perfekt, schon mit 5 Jahren. Damals aber sprach noch niemand über Borderline oder Depression und schon gar nicht bei Kindern. Heute ist das schon etwas anders. Die Kliniken sind voll mit Kindern und Jugendlichen.

Man weiß inzwischen, das sich selbst ein Trauma vererben kann, wenn die Anlagen dafür da sind. Depressionen sind vererbbar und ich habe sie meinen beiden Kindern mitgegeben.

 

Wenn ich jetzt lese was Sie und ihre beste Freundin M. mir geschrieben habe, bin ich noch aus einem anderen Grund überrascht und fassungslos. Ich erkenne mich in vielem wieder. Unglaublich.

Obwohl Jenny mein Leben, vor allem mein Arbeitsleben, verurteilt hat, hat sie wie ich gelebt und gearbeitet. Arbeit macht nicht frei, sondern auch krank. Leider. Sie machte die gleichen Fehler wie ich. Und ich habe das Leben meiner Eltern kopiert, obwohl ich alles besser machen wollte und meine Kinder nicht erleben sollten, was ich erleben musste. Auch die Beschreibung von Jenny, die ihre beste Freundin m. mir schrieb, war als würde sie von mir sprechen. Genau so wurde ich immer beschrieben. Es wiederholt sich in Dauerschleife, die nur durch Tod meiner Tochter beendet wurde.

 

Sie glauben gar nicht was die Psyche alles kann. Kein Mensch, der es noch nicht erlebt hat, kann sich das vorstellen. Ich war mal ein hochaktiver Mensch. Ich musste das Leben wieder lernen, auch wenn es für mich keinen Sinn machte. Es war mir egal. Damals. Erst in der Therapie wurde mir langsam klar, was und warum alles mit mir geschah. Ich arbeite seither hart an mir selbst, um wenigstens ein wenig Lebensqualität zu erreichen.

 

Wen haben Sie heute kennengelernt?

Sie haben eine Frau gesehen, die gut kommuniziert, gepflegt und nicht gerade krank aussieht. 

Genau diese Frau war im Funktionsmodus. Genau diese Frau hat kaum Gefühle und schon garn nicht positive für sich selbst. Genau diese Frau kann sich selbst, wunderbar negativ beschreiben. Sie fühlt sich oft hilflos und ist beständig todmüde. Kann aber nicht schlafen, so wie jetzt, weil ihre Gedanken nicht nur Karussell fahren, sondern Amok laufen. Die innere Leere ist schlimm. Genau dieser Frau fehlt oft jeder Antrieb, dann sitzt sie den ganzen Tag auf der Couch und wundert sich, dass der Mann schon von der Arbeit kommt (pünktlich 17.00 Uhr). Diese Frau hat große Schwierigkeiten sich zu duschen oder die Haare zu waschen. Ihr fehlt oft jede Motivation. Sie schlürft beim gehen, weil sie das Gefühl hat, sie hätte Beton unter den Füßen und auf den Schultern. Jeder Schritt ist dann mühsam. Sie schaut die Sonne an und sieht sie nicht. Sie scheut Kontakte und geht kaum aus dem Haus. Sie übergibt sich früh am Morgen und kann nichts essen, wenn sie einen Termin hat, wie Arzt oder eben Berlin. Diese Frau macht sich gern Termine, überfordert sich selbst, braucht langfristig Termine für die Vorbereitungszeit darauf und sagt dann doch ab. So wie heute, wir unsern Besuch beim Schwager abgeblasen haben, weil ich dazu nicht mehr in der Lage war. 

 

Was die Borderlinestörung oder die Depressionen mit einem Menschen machen können, ist für gesunde aktive Menschen unvorstellbar, ja wir Kranken verstehen es ja selbst kaum. Wenn ich mich nicht auf die Tage oder Stunden konzentrierte, wo ich Schönes erlebe, achtsam mit mir selbst umgehe, dann rächt sich diese Krankheit sofort und ich bin für Tage außer Gefecht.

Depression ist nicht einfach. Sie kann jeden treffen. Wir sind nicht schwach. Wir sind stärker als viele normale Menschen. Für uns ist jeder Tag, jede Aktion anstrengend und bedeutet Kampf mit mir selbst und eine Menge Überwindung. Was Ihnen so normal, alltäglich und einfach erscheint, ganz nebenbei zu erledigen ist, ist für mich nicht normal, nicht alltäglich und schon gar nicht einfach und das fängt am Morgen mit dem Aufstehen und Zähneputzen an und endet am Abend mit der Körperpflege und schlafen. Selbst essen und trinken ist an schweren Tage die schönste Nebensache der Welt. Ich vergesse es schlicht weg. Daneben ist die Konzentration beeinträchtigt und ich kann Gesprächen, insbesondere langen Gesprächen nicht folgen und zwitsche heraus, höre nicht zu und hoffe immer es fällt nicht auf. Schlimm ist es besonders, wenn wir mit den Kindern und Enkelkindern zusammen sind. Ich brauche immer einen Rückzugsort, wo ich hingehen kann, wenn ich nicht mehr kann und das ist die Regel. Wenn ich mich total überfordere dissoziiere ich. Das heißt, ich bin nicht ansprechbar und  handlungsfähig, kann auch nicht antworten und darf nicht angefasst werden, da ich sonst losbrülle wie ein wütender Löwe. Irgendwann bin ich dann wieder da und handlungsfähig, als wäre nichts geschehen. Oder ich reagiere auf meinen Namen und komme zurück ins Jetzt.

 

Ich hoffe ich konnte Ihnen gut erklären wie mein Leben aussieht und wie das ähnlich ganz sicher bei Jenny war. Hätte ich noch arbeiten müssen, würde ich heute sicher nicht mehr leben. Seit 2013 bin ich Erwerbsunfähig berentet, auf Grund der Depression. Meine Leistungsfähigkeit liegt bei unter 30% und das betrifft alle Lebensbereiche.

 

Wenn Jenny ihren Tod geplant hatte, konnten niemand sie aufhalten. Dann war das so. Es ist trotzdem schwer damit zu leben und sich keine Schuld daran zu geben. Hätte hilft nicht weiter. Ich hätte mir gewünscht einer aus der Familie hätte den Arsch in der Hose gehabt, ehrlich gegenüber mir zu sein und nicht genau das zu tun, was Jenny wollte. Nein, meine Familie hat nichts dafür getan, dass Jenny nur einfach mal einen Versuch unternimmt, sich mir wieder zu nähern. Niemand hat mir wirklich erzählt was los war, vielleicht haben sie auch alle wieder einmal diese Krankheit ignoriert, so wie bei meinem Bruder alle meine Warnungen in den Wind geschlagen wurden. Mir wäre ganz sicher aufgefallen, was mit Jenny los ist, so wie ich es bei meinem Bruder gesehen habe und vorher gesehen habe, wie es endet. Leider.

 

Noch ein Wort zu meiner Bestattungsrede.  Ich musste keine Worte suchen. Sie waren einfach da und ich habe mitgeschrieben was meine Seele und mein Herz mir erzählt haben, mehr nicht. Ich bin dankbar dafür, dass Sie meine Worte beeindruckend fanden.

Unser Kontakt heute hat auch mir gut getan, auch wenn es schwer war. Es war gut mit Ihnen zu sprechen. 

 

Ich wünsche mir, dass sie rauchen auf Ihrem Grundstück erlauben. Gerade wenn ich solche Gespräche habe, die mich beanspruchen, muss ich rauchen. Vielleicht gibt es ja die Ausnahme, einer kleinen Raucherecke, für mich. Das würde mich freuen. Ich habe momentan keine Kraft, neben meinen psychischen Problemen auch noch die Nikotinsucht zu bekämpfen. Tut mir leid.

 

Herzliche Grüße aus Dresden Heike 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0